Die "Als-Ob-Beleidigung": Der Fall Böhmermann

 

Eine Woche Zeit wollte die Bundesregierung sich nehmen. Inzwischen hat sie entschieden, die Strafverfolgung Jan Böhmermanns wegen der „Beleidigung von Organen und Vertretern ausländischer Staaten“ zu gestatten. Hintergrund ist eine Fernsehsendung, in der der Satiriker ein mit „Schmähgedicht“ betiteltes und aus drastischen, an den türkischen Regierungspräsidenten Erdogan gerichteten Beschimpfungen bestehendes Gedicht vorgetragen hat. Böhmermann betonte in Begleitung zum Vortrag dieses Gedichts, dass es sich um Schmähkritik handle, die in Deutschland nicht erlaubt sei, schilderte den justiziellen Umgang mit Schmähkritiken und empfahl dem türkischen Präsidenten ironisch den Scherzanwalt Dr. Witz zur Rechtsverfolgung. Vorausgegangen war der Darbietung ein Lied, das der Satiresender extra 3 wenige Tage zuvor abgespielt hatte und eine scharfe, doch nicht beleidigende Kritik an Recep Erdogan und dessen Haltung zur Presse- und Meinungsfreiheit enthielt. Erdogan hatte daraufhin von der Bundesregierung verlangt, gegen die Verantwortlichen von extra 3 vorzugehen. Die Reaktionen auf Böhmermanns Vorführung in Presse, politischer Öffentlichkeit und juristischer Fachwelt waren zwiespältig: Nachdem zunächst Stellungnahmen dominierten, die das Musikstück von extra 3 als Satireform gegen die unzulässige, „bewusst verletzende“ (Pressesprecher v. Angela Merkel) Darbietung von Jan Böhmermann abzugrenzen versuchten, schwenkte schließlich das Meinungsbild zugunsten von Böhmermann, dessen Vortrag nunmehr überwiegend als juristisch zulässig, jedoch grenzwertig eingestuft wird. Die Kommentatoren weisen überwiegend auf die Wahrnehmung berechtigter Interessen in § 193 StGB hin und halten die Grundrechte in Art. 5 GG für schutzwürdiger als den Ehrschutz von Erdogan. Zuletzt dominierte die Frage, ob die Bundesregierung eine Ermächtigung nach § 104a StGB erteilen könne.

 

Strafrechtliche und rhetorische Beurteilung

 

Der Fall Böhmermann weist einige Akzente auf, die bislang unerörtert geblieben sind. Diese sollen hier besprochen werden.

 

Tathandlung: Beleidigung

 

Beleidigungen sind, so heißt es in der einschlägigen Dogmatik, Äußerungen, die „ehrabschneidenden Charakter“ haben. Sie sind als Werturteile darauf gerichtet, den sozialen Geltungswert des Beleidigungsopfers herabzusetzen. Ob einem Sprechakt dieser Charakter zukommt, ist "unter Einbeziehung sämtlicher Begleitumstände" festzustellen. Dabei ist bereits die zu beurteilende Äußerung selbst im Lichte von Art. 5 GG auszulegen. Wenn mehrere Interpretationsweisen gleichermaßen möglich sind, dann ist die für den Täter günstigste Lesart zu wählen.

 

Welche Perspektive entscheidet?

 

Eine Frage drängt sich auf, bevor überhaupt entschieden werden kann, was denn nun die günstigste Interpretationsweise ist: Auf wessen Perspektive ist abzustellen, wenn beurteilt werden soll, ob der soziale Geltungswert eines Menschen herabgesetzt wurde? Ist die Opferperspektive entscheidend? Doch was, wenn das Opfer die Schwelle zur Anfechtung seines Geltungsanspruchs, die überschritten sein muss, damit es sich als beleidigt betrachtet, ungewöhnlich niedrig ansetzt? Offenbar kann die Opferperspektive nicht entscheidend sein – damit zugleich auch nicht, ob der Täter sein Verhalten gegenüber dem Opfer als beleidigend hätte voraussehen müssen (was auch immer „müssen“ hier heißen mag). Naheliegend ist es deshalb zu untersuchen, ob zum Orientierungspunkt die Verankerung in einer sozialen Praxis genommen werden kann. Ließe man eine solche Praxis außer Acht, so würde man einen erzieherischen Auftrag der Richterschaft zur Neuregelung eingeschliffener Kommunikationsspiele bejahen. Es ist also - freilich in typisierender Manier - auf die Betroffenen selbst abzustellen. Was diese in einer bestimmten sozialen Situation für beleidigend halten, soll zunächst maßgeblich sein: Der mitunter scharfe Umgangston auf der Baustelle ist daher nicht gleich beleidigend. Und unter Diplomaten können auch vergleichsweise feine Äußerungen die Grenze zur Beleidigung überschreiten. Nicht immer kann eine solche Sprechpraxis (im weitesten Sinn, denn auch gestische Beleidigungen sind möglich) festgestellt werden. Wenn keine sozial fixierte Situation gegeben ist und unterschiedliche Personenkreise beteiligt sind, bleibt als Maßstab nur die Sichtweise eines fiktiven Durchschnittsmenschen. Beleidigend ist dann also das, was Mister Smith für beleidigend halten würde. Es fragt sich nur, wann die richterliche Konstruktion "Mister Smith" beleidigt sein mag? Sicher ist, dass in solchen unklaren Situationen weder der Umgangston auf der Baustelle noch der nuancierte in der Diplomatie maßgebend sein können. Dazwischen liegen ein weites Feld und eine recht zerfaserte Kasuistik.

 

Die „richtige“ Lesart?

 

Hier scheint die Beleidigung in einem Text, genauer gesagt: in einem "Schmähgedicht", zu stecken. Wie aber liest man einen Text richtig daraufhin, ob er beleidigend ist? Muss der Leser zunächst eine Lesart wählen, mit der er so nah am Text bleibt, bis dass er förmlich mit der Nasenspitze dranstupst? Versuchen wir es zunächst tatsächlich mit der textnächsten – der buchstabengetreuen – Interpretation, wohlwissend, dass Buchstaben ohne Kontext keinen Sinn ergeben – nicht einmal die angeblich autosemantischen Ausdrücke oder logisch-mathematische Basiszeichen wie die Klammerzeichen "()" oder Operatoren wie "+" und "v". Man muss schon wissen, dass man sich in einem logischen oder mathematischen Kontext bewegt und die Klammer keinen Smiley bildet und das +-Zeichen keine Verwendung als Merkposten auf einem Einkaufzettel gefunden hat, oder dass "v" für das logische "vel" im Kalkül steht und nicht als eine in ein Buch gekritzelte Abkürzung für Voland fungiert. Aber wir wollen nicht haarspalterisch werden und Bodenhaftung – „echte“, nicht überpenible Textnähe – bewahren, das Geschriebene so verstehen, wie es nun einmal einfach da geschrieben steht. Nach dieser Leseweise wäre dann allerdings im Fall Böhmermann nicht die Beleidigung, sondern, möchte man meinen, die üble Nachrede einschlägig. Eindeutig steht im Gedicht geschrieben, dass Erdogan ein Sodomit – „am liebsten mag er Ziegen ficken“ – sei. Der geschlechtliche Verkehr mit Tieren ist aber eine Tatsache, die dem bedauernswerten Herrn Erdogan nachgesagt wird, und Herr Böhmermann wird kaum in der Lage sein nachzuweisen, dass diese Tatsachenbehauptung der Wahrheit entspricht. Ist damit der Fall gelöst? Hat Böhmermann sich der üblen Nachrede im Sinne von § 186 StGB strafbar gemacht? Das jedenfalls würde die textnächste – allein bei den Tatsachen bleibende – Lesart vorschreiben.

 

Die beleidigende Metapher

 

Sofort sträubt sich bei jedem etwas, der entweder die Aufführung gesehen oder den Text des Gedichts gelesen hat: Lässt man den oben noch verbannten Kontext zu, wird intuitiv völlig klar, dass Böhmermann allenfalls eine herabsetzende Wertäußerung intendiert hat: Er weiß, dass sein Auditorium weiß, dass er nicht beabsichtigt, Erdogan der Sodomie zu bezichtigen, und dass das Auditorium um dieses Wissen von ihm weiß. Man ist sich irgendwie einig, wer was will – oder jedenfalls nicht will. Die in Reimform geschilderten Seins- bzw. Handlungsweisen sollen allenfalls die Abneigungen des Autors gegen eine Person vertreten. „Erdogan ist ein Sodomit“ soll in diesem Kontext so viel wie „Erdogan ist pfui“ heißen, allerdings handelt es sich um eine Art verschärftes „pfui“, dessen Schweregrad sich aus folgendem Mechanismus ergibt: Beleidigungen funktionieren oft im Modus des „als ob“. Sie sind metaphorischer Natur. Sodomitische Handlungen etwa sind mit einem sozialen Unwert verknüpft, sie erregen Abscheu und diese Abscheu soll auf eine Person übertragen werden: “Erdogan ist so schlimm wie jemand, der Sodomie betreibt“ wäre die eigentliche Aussage. Das ist offenkundig dieselbe Struktur wie die Aussage „Achilles ist ein Löwe“. Auch hier wird ein in der griechischen Gesellschaft mit Löwen assoziiertes Konglomerat an Eigenschaften bzw. Werten (Mut, Stärke) dem Krieger Achilles zugeschrieben, indem ausdrücklich das Löwe-Sein prädiziert und damit – so schreibt es Ricoeur – eine Impertinenz ausgelöst wird, die eine vom buchstäblichen Text abweichende Lesart erzwingt. Zugeschrieben wird in beiden Fällen ein „Wert“, und als „Spender“ fungiert in beiden Fällen eine Seinsweise (Sodomit- und Löwe-Sein). Der mit einer Metapher verbundene Übertragungsakt setzt – hier wie dort – eine gewisse soziale Verankerung, eine Konvention voraus: Je kühner eine Metapher, je origineller eine Beleidigung ist, desto unwahrscheinlicher ist es, dass sie als solche verstanden wird. Aber es ist ohnehin zweifelhaft, ob es eine Beleidigung in einer Privatsprache geben kann, denn Beleidigungen setzen auch juristisch Sozialität voraus. Andererseits dürfen Beleidigungen, um wirksam sein zu können, einen gewissen Grad an Konventionalisierung gerade nicht erreichen: So sind sie nicht durch „performative Verben“ („ich verspreche dir hiermit, dass ...“ – vgl. Austin – How to do things with words, Searle – Speech Acts) ausdrückbar: „Ich beleidige dich (hiermit), indem ich dich einen Sodomiten nenne“ würde vermutlich als skurril, aber kaum als beleidigend empfunden werden. Der von Austin so genannte  „illokutionäre Akt“ – eben „das Beleidigen“ – muss implizit bleiben, damit der perlokutionäre Effekt – das Empfinden aufseiten des Opfers, beschimpft worden zu sein – eintreten kann. Anders ausgedrückt: Der Beleidiger muss damit rechnen können (und wollen), dass der Beleidigte sich auch beleidigt fühlt. Die Beleidigung setzt damit immer eine gewisse Spannung zwischen lokutionärem (dem explizit Gesagten) und illokutionärem Akt voraus, damit der perlokutive Effekt eintreten kann. Diese Spannung wird durch das Übertragungsprinzip der Metapher bewirkt. Damit soll nicht behauptet werden, dass Beleidigungen immer metaphorisch funktionieren. Oftmals werden Metaphern in Beleidigungen aber auch nicht erkannt. Manchmal sind Beleidigungen so konventionalisiert, dass die metaphorische Qualität fraglich wird. Es gibt zudem Formationen, die auch anders qualifiziert werden könnten: etwa als Metonymie oder Synekdoche. Allerdings werden die vielen toten Metaphern (z. B. der Berg"rücken", das magnetische "Feld", der Atom"kern") angesichts ihrer Konventionalisierung auch im sonstigen Gebrauch in der natürlichen Sprache oft nicht mehr als Metaphern identifiziert. Außerdem funktionieren Metapher, Synekdoche und Metonymie gleichermaßen nach dem Übertragungsprinzip.

 

Es kann jedenfalls kurz dogmatisierend zusammen gefasst werden: Je stärker der Grad an sozialer Ächtung wäre, der mit einer zugeschriebenen Handlung oder Seinsweise verbunden ist, von der alle Beteiligten wissen, dass sie die damit assoziierte Person nicht ausgeführt hat oder auf sie nicht zutrifft, desto größer ist der Grad an Verächtlichmachung durch eine Äußerung. Böhmermann hat Erdogan in seinem Gedicht u. a. als sadistischen Sodomiten gezeichnet, womit offenbar eine schwere Herabsetzung im sozialen Geltungswert verbunden ist. Doch muss man die Vorführung deshalb als Beleidigung qualifizieren?

 

Die Schwierigkeit der Deutung von "Metaprogrammierungen"

 

Das Gefühl bleibt, dass noch nicht alles besprochen ist, was in Böhmermanns Sketch so alles drin steckt. Wir müssen versuchen, uns noch ein paar Zentimeter höher in die Lüfte zu heben: Böhmermann hat offenbar einen Rahmen – eine Metaebene – um seine Darstellung gebaut. Was das ist, sei kurz erläutert: Der objektsprachliche Satz „Der Ball ist rot“ kann tatsächlich „Der Ball ist grün“ bedeuten bzw. auf einen grünen Ball referieren, wenn auf metasprachlicher Ebene eine Festsetzung der Gestalt „Alle im Folgenden als rot bezeichnete Gegenstände sind grün“ vorgenommen worden ist. Das ist übrigens gar nicht so ungewöhnlich, denn auch in Metapher steckt ganz viel „meta“ drin und in Metaphern (und darüber) reden wir ständig – zum Beispiel oben.

 

Mit der Meta-Nummer lassen wir Herrn Böhmermann allerdings nicht so einfach davonkommen. Wenn man sagt, dass „Grün“ und „Rot“ einfach vertauscht werden, dann liegen die Dinge - big Pardon an alle Farbenblinde - klar vor dem Auge, weil sie schön scharf umrissen und derart gegeneinander austauschbar sind, dass keine Rückstände bleiben: Rot vertritt  tatsächlich Grün und nicht heimlich doch noch Rot. Bei einem Meta-Spiel, das Wertzuschreibungen betrifft, liegen die Dinge allerdings meist komplizierter als bei Propositionen. Das soll nicht heißen, dass hier nicht solche Meta-Spiele möglich sind. So lässt sich etwa festsetzen: „Wenn ich sage: „Der X ist blöd“, dann soll es „Der X ist respektabel“ heißen“. Durch eine solche Festsetzung wäre theoretisch der Satz „X ist blöd“ nicht beleidigend, vorausgesetzt – was nahe liegt – dass nicht in einer Metasprache „2. Stufe“ die Metasprache „1. Stufe“ aufgehoben wird, sodass es bei der „natürlichen Bedeutung“ der objektsprachlichen Äußerung bleibt: Ich sage objektsprachlich: „X ist blöd“, meine damit aber in Metasprache „1. Stufe“: „X ist respektabel“, doch sage ich in einer Metasprache „2. Stufe“: „Der Modus in Metasprache 1. Stufe soll nicht gelten = Ich meine das alles so, wie ich es sage, und das Gerede von wegen „meta“ soll nur Vorwand und Camouflage für meine eigentliche Beleidigungsabsicht sein“. Umgekehrt kann auch ein Austausch von Farben Probleme bereiten, wenn etwa in der Metasprache 1. Stufe festgelegt wird: „Alle im Folgenden als cyan bezeichneten Gegenstände sind türkis“.

 

Bei Böhmermann ist – wie im zuletzt benannten Beispiel – der „Austauschwert“ problematisch: Mit der Aussage „Erdogan ist ein Sodomit“ möchte zunächst Böhmermann offensichtlich nicht kundtun, „Erdogan ist mein Freund“, sondern er will immer noch Kritik an Erdogan üben: Das Gedicht, mit all den drastischen Beschimpfungen, könnte vielleicht durch „Metaprogrammierung“ den durchaus als legitim empfunden „eigentlichen“ Inhalt erhalten: „Erdogan hat sich tadelnswert verhalten, weil er den durch diese Darstellung explizierten Unterschied von geschützter Satire und Formalbeleidigung ignoriert und sich anmaßt, auf die Handhabe von Meinungs- und Pressefreiheit in Deutschland in freiheitsverkürzender Weise Einfluss nehmen zu wollen“. In Abgrenzung zur Beleidigung könnte eine solche Aussage als Tadel bezeichnet werden.

 

Tadel und Beleidigung sind – ein bisschen wie „Cyan“ und „Türkis“ – zwei miteinander familienverwandte Bereiche, die fließend ineinander übergehen und unmöglich trennscharf voneinander zu scheiden sind und deren jeweilige Klassifizierung wesentlich auch vom subjektiven Empfinden der Hörer abhängig ist. Damit sind wir wiederum bei der Frage nach der entscheidenden Perspektive, derjenigen von Mr. Smith. Unser deutscher Mr. Smith würde die obige tadelnde Aussage kaum als Beleidigung bezeichnen wollen, da hier „eine Verhaltensweise und nicht die Person schlechthin“ Kritik erfahren; ein türkischer Mr. Smith würde womöglich bereits hierin – wegen ungebührlicher Kritik an einer Autoritätsperson – eine Beleidigung sehen.

 

Die „Als-Ob“-Beleidigung als grenzwertige Satire?

 

Für den obigen Aussagehalt sprechen einige Anhaltspunkte: Das vorgetragene Gedicht trug den vorab mitgeteilten Titel „Schmähgedicht“. Böhmermann hat vor, während und nach der Vorlesung des Gedichts deutlich gemacht, dass er es als im deutschen Rechtsraum unerlaubt ansieht. In formal-ästhetischer Hinsicht soll offenbar bewusst der Eindruck von derber Kleinkunst erzeugt werden: Die Wortwahl ist platt und infantil, die Verse sind von unschöner Form. Das steht in Kontrast zu den dichterischen Fertigkeiten, die das an der Produktion der Sendung beteiligte Personal von ZDF vermutlich besitzt, und deutet darauf hin, zumal die Sendung auch in der Vergangenheit ein medien- und kunsttheoretisches Metaspiel („Varoufakis“) getrieben hat, dass mit der Darbietung offenbar wiederum ein theoretischer Diskurs zur Frage „Was ist und darf Satire?“ gesucht wird. Vor allem spricht für diese Leseweise die unmittelbare zeitliche Verknüpfung mit dem Vorgang um extra 3: Es war eine aktuelle Kontroverse und die Aufführung von Böhmermann ist in diesem Zusammenhang als Stellungnahme zu verstehen. Jedenfalls bei einer täterfreundlichen Lesart dürfte man kaum die Ereignisse um extra 3 als bloßen Vorwand für Beschimpfungen deuten.

 

Bislang wurde nur festgestellt, dass es offenbar zwei implizite Zwecke (eine Stellungnahme in theoretisch-ästhetischer und eine Stellungnahme in moralisch-tadelnder Hinsicht)  gibt, die mit dem Sketch verfolgt werden und die – nimmt man einen deutschen Mr. Smith als Maßstab – keinen beleidigenden Charakter hätten. Die Frage ist nur, ob es nicht ein überschießendes Drittes gibt? Oben wurde bereits auf die Familienähnlichkeit von Tadel und Beleidigung hingewiesen: Beide schließen einander nicht aus; der „eigentliche“ Tadel kann auch neben und nicht nur an die Stelle der „uneigentlichen“ Beleidigung „treten“. Das ist anders als beim simplen Austausch von „Grün“ und „Rot“, wo das eine nur auf der Bühne spielen kann, wenn das andere abgetreten ist. „Tadel“ und „Beleidigung“ hingegen können gemeinsam performen.

 

Um die Frage zu beantworten, muss zunächst ein Blick auf die Anlage der Inszenierung geworfen werden: Konnte das künstlerisch-theoretisierende oder moralisierende Ziel der Sendung nicht auf eine weniger drastische Art und Weise erreicht werden? Alle drei Wirkebenen sind in Böhmermanns Inszenierung ineinander verkeilt: Zwar könnte ein theoretischer Diskurs ohne „Beleidigungscharakter“ geführt werden, indem man im Schmähgedicht etwa Bezug auf eine fiktive Persönlichkeit nimmt. Und tadeln kann man – im Wort zum Sonntag – auch in einer maßvolleren Darstellung. Beides kann auch durchaus in einer Vorführung geschehen. Aber damit würden Selbstreferenz und Einheit des Sketchs verloren gehen, wenn nicht gar der Charakter als Satire überhaupt.

 

Die „beleidigende Dimension“ in der Aufführung hat eine für ihre Wirkung wichtige Funktion: Sie sorgt für Aufmerksamkeit und löst Reaktionen (etwa mit Strafverfolgung und rechtlichem Diskurs) aus, die antizipiert wurden, und diese Reaktionen tragen wiederum zum Gelingen des Sketchs in der theoretischen Dimension bei. Aber was ist mit der „beleidigenden Dimension“ nun eigentlich genau gemeint (1), was gehört zu ihr (2) und rechtfertigt ihre Inkorporation in den Sketch die Annahme einer Beleidigung (3)? Denn nur diese kann Anknüpfungspunkt für eine Qualifikation als Beleidigung sein. Wir erinnern uns: Die Aussage „Erdogan ist ein Sodomit“ wäre nur deshalb eine Beleidigung, weil der Unwert, der einem Sodomiten gesellschaftlich zugesprochen würde, mit Erdogan auf eine Person übertragen werden soll, die – was allen Beteiligten bekannt ist – gerade kein Sodomit ist.

 

Ist dieser Akt der Zuschreibung eines Unwerts aber notwendig für das Funktionieren des Sketchs? Muss Mr. Smith tatsächlich annehmen, dass Böhmermann mit dem sichtbar ironischen Spiel Erdogan tatsächlich eine Qualität analog dem Sodomiten-Sein zusprechen wollte? Näher liegt es offenbar, dass Böhmermann die affektive Wirkung und den Aufmerksamkeitswert, die mit dem Akt der Zuschreibung einer solchen Qualität an ein Staatsoberhaupt verbunden sind, gewissermaßen borgen wollte. Es geht um den kalkulierten Tabubruch und weniger um die Schmälerung sozialer Geltung einer Person. Der Zuschreibungsakt „Erdogan ist ein Sodomit“ betrifft angesichts der selbstreferenziellen Anlage der Darbietung paradoxerweise überhaupt nicht Erdogan in dem Sinne, dass ihm allen Ernstes dieser Unwert zugeschrieben werden soll. Durch den Akt der scheinbaren Beleidigung wird der Vorführung das Attribut „grenzwertige Satire“ zugewiesen: Und nur um diese Prädikation geht es Böhmermann. Erdogan ist als Person, jedenfalls soweit es die theoretische Dimension im Sketch betrifft, eine quantité négligeable, also austauschbar: Es hätten im Grunde auch Joachim Gauck, Shinzō Abe oder Barack Obama „Satireopfer“ sein können; einen Autokraten brauchte man als vermeintliches Beleidigungsopfer nicht unbedingt, jedenfalls nicht, soweit der Sketch eine Stellungnahme in einem theoretischen Diskurs sein sollte, in dem es um die Frage geht, was Satire ist und darf. Was Böhmermann getan hat, ist insofern eine Art „Als-ob-Beleidigung“. Auf eine  Aussage Böhmermanns in der Vorführung, die man vielleicht tatsächlich als Beleidigung qualifizieren kann, könnte man nur kommen, wenn ein noch größerer Abstand zum buchstäblichen Text eingenommen wird. Sie lautet: „Erdogan ist ein machtloser Potentat. Seht alle her: In Deutschland kann ich ungestraft über eine solche Witzfigur spotten“. Zum Allzumenschlichen gehört die stille Freude an dem Bewusstsein, einem Autokraten Anlass für Verärgerung gewesen zu sein und ihn zum Gegenstand des Spotts – der allgemeinen Belustigung – werden zu lassen. Ließe sich diese Aussage tatsächlich begründen, so wäre ihre Qualifikation als Beleidigung unproblematisch: Durch sie würde Erdogan wirklich etwas zugeschrieben, was seinen Geltungswert anficht.    

 

Fazit: Der Fall wird die Gerichte beschäftigen. Sie werden genau prüfen müssen, ob es diesen zuletzt benannten überschießenden Beleidigungsanteil auch bei einer angeklagtenfreundlichen Lesart der Aufführung bejahen möchten. Unberücksichtigt blieb in der obigen Interpretation allerdings, dass das Gedicht offenbar nicht lediglich vorgetragen, sondern während des Vortrags in die türkische Sprache übersetzt und diese Übersetzung eingeblendet worden ist, wohingegen die Aufspannung des Rahmens unübersetzt geblieben ist. Damit wurde das Auditorium in ein deutschsprachiges und ein türkischsprachiges gespalten. Auseinanderfallende Eindrücke wurden von dem Sketch-Erfinder also offenbar einkalkuliert. Sollten die Gerichte die Tathandlung Beleidigung bejahen, dann müssten sie auch dann, wenn nach § 103 StGB verfolgt wird, den Rechtfertigungsgrund nach § 193 StGB prüfen. Die alte Rechtsprechung des Reichsgerichts zur Majestätsbeleidigung dürfte wohl kaum herangezogen werden können, sodass bei der Abwägung mit dem Ehrschutz die Grundrechte der Presse-, Meinungs- und Kunstfreiheit voll miteingestellt werden können. Die zeitgenössische Satire ist zudem als eine in freiheitlichen Gesellschaften zulässige Form polemisch vorgetragener, oftmals beißender und nicht selten auch derber Kritik an Obrigkeiten weithin anerkannt. Ihre Wurzeln ragen im Übrigen historisch bis in vordemokratische Zeiten hinein: Der Karneval, mit etwa der Fabel und der Parodie, ein naher Verwandter der Satire, war immer schon auch eine Form der Darstellung, in der drastische Kritik an Herrschern geübt und geduldet wurde: Als gesellschaftliches Ereignis wurde er seit jeher begleitet von einer temporären Suspendierung der (einst: ständischen) Gesellschaftsordnung, also quasi ein Ausnahmezustand auf Zeit (vgl. Agamben, Homo Sacer). Die Karikaturen von Politikern auf Karnevalszügen sind oftmals grenzwertig und doch akzeptiert. Politiker sind in dieses volksnahe Spiel durch Veranstaltungen wie den „Orden wider den tierischen Ernst“ eingebunden. Man kann durchaus überlegen, ob die Satire vor dem Hintergrund auch der skizzierten Einbettung in eine kulturelle Tradition als eine Art „kleiner Ausnahmezustand“ gleich dem Karneval qualifiziert werden kann. Zumal der Ehrschutz ohnehin jedenfalls die Kunstfreiheit nicht ohne weiteres einschränken könnte, da man dann die differenzierte Schrankensystematik in Art. 5 GG unbeachtet ließe. Damit würde sich die Frage „Was darf Satire?“ mehr auf die Frage “Was ist Satire?“ verlagern, damit nicht durch die Selbstzuweisung des Feigenblatts "Satire" eine platte Beleidigung allzu leicht verborgen werden kann. Im Vergleich zu anderen westlichen Staaten ist der Ehrschutz in Deutschland ohnehin stark ausgeprägt: Im Common Law kann Rechtsschutz praktisch nur zivilrechtlich erlangt werden. Die Gerichte werden vermutlich auch zur Präzisierung der bisherigen Dogmatik gezwungen werden: Im Fall Böhmermann fließen, was hier nur angedeutet werden konnte, die Tathandlung „Beleidigung“ sowie die Rechtfertigung nach § 193 StGB, aber auch der subjektive Tatbestand ineinander.

 

 

Annex: Durfte die Bundesregierung die Ermächtigung nach § 104a StGB erteilen – oder musste sie es aus politischen Gründen?

 

Erdogan beabsichtigt auch eine Verfolgung von Böhmermann nach § 103 StGB. § 103 StGB liegt im Strafmaß höher als die einfache Beleidigung des § 185 StGB. Wenn die Bundesregierung ihre Ermächtigung nicht erteilt, dann verhindert das ein Verfahren nach § 185 StGB nicht, denn § 103 StGB wird in der Dogmatik zwar als spezielles Gesetz zum § 185 StGB qualifiziert, verdrängt die einfache Beleidigung aber nur dann, wenn auch nach § 103 StGB verfolgt werden kann. Juristen sagen hierzu manchmal mit einem seltsamen Sinn für mystische Metaphorik: Das eigentlich schon tote, das "verdrängte Delikt lebt wieder auf" und führt dann ein strafprozessuales Wiedergängerdasein. Die Bundesregierung kann also ein strafrechtliches Verfahren gegen Böhmermann wegen Beleidigung gar nicht verhindern – sondern nur eine Verfolgung wegen einer Verletzung der praktisch qualifizierten Beleidigung in § 103 StGB. Neben der Ermächtigung durch die Bundesregierung gehört zu den Voraussetzungen von § 104a StGB auch das Erfordernis der Gegenseitigkeit: Deutschland und die Türkei müssten gleichermaßen Delikte vorsehen, durch die sie einander die strafrechtliche Verfolgung von gegen ihre jeweiligen Staatsoberhäupter gerichteten Beleidigungen ermöglichen. Diese Voraussetzung wird allerdings von den Gerichten und der Staatsanwaltschaft als Prozessvoraussetzung und nicht von der Bundesregierung geprüft. Die Erteilung der Ermächtigung ist hiervon also unabhängig. Sie geht auf die Beratungen zum 3. StrÄndG zurück: Sog. „schutzunwürdige Staaten“ sollen im Einzelfall von der Strafverfolgung ausgeschlossen werden können (MüKo/Kreß, 2. Aufl., § 104a, Rn. 11). Das Ermächtigungserfordernis in dieser Vorschrift wurde also eingeführt, damit nicht jeder (aus deutscher Sicht) „Schurkenstaat“ eine Strafverfolgung in Deutschland wegen einer Verletzung dieses Delikts anstrengen kann. Bei der Entscheidung der Bundesregierung geht es also nicht um die Frage, ob sie dem Ehrschutz Erdogans den Vortritt vor deutschen Grundrechtsträgern lässt – diese Frage haben die Gerichte zu prüfen. Die Prüfung zur Ermächtigungserteilung durch Bundesregierung (d. h. der amtierende Bundesaußenminister) ist keine juristische, sondern eine politisch motivierte Prüfung, deren Ausgang davon abhängt, ob die Türkei als „schutzunwürdiger Staat“ eingestuft werden soll. Durch ihre Erteilung wird in keiner Hinsicht der folgende Prozess präjudiziert – wie sollte das auch gehen? Richter sind – wenn auch zwanglos gezwungen – bekanntlich unabhängig (vgl. Simon, Die Unabhängigkeit des Richters). Die Ermächtigung könnte, ggf. nach veränderter politischer Einschätzung, auch während eines laufenden Prozesses noch entzogen werden, womit wegen nachträglichen Entfallens einer Prozessvoraussetzung die Klage unzulässig würde. Würde die Bundesregierung (eigentlich: der Bundesaußenminister) hingegen die Ermächtigung nicht erteilen, so würden Fakten geschaffen – und zwar nicht bloß juristische. Juristisch entfiele damit die Möglichkeit, Böhmermann wegen einer Verletzung von § 103 StGB zu belangen. Eine solche Entscheidung führte, weil die Türkei damit praktisch zum Schurkenstaat abgestempelt würde, vermutlich zu einer diplomatischen Krise: Immerhin ist die Türkei ein Bündnispartner Deutschlands in der NATO, sie ist Beitrittskandidat zur EU und Mitglied der OECD, kurzum: Sie ist nicht bloß wegen der Flüchtlingssituation ein wichtiger internationaler Partner Deutschlands. Es wäre daher sicher ein politisches Beben gewesen, hätte die Bundesregierung die Ermächtigung nicht erteilt, die Türkei damit überaus scharf in der Satiredebatte zurechtgewiesen und damit diplomatische Verwerfungen in Kauf genommen.

 

Ergebnis: Der Bundesregierung blieb aus politischen Gründen kaum etwas anderes übrig, als die Ermächtigung zu erteilen und nicht wieder zu entziehen. Die Ermächtigung hat inzwischen zwar nicht – so liest man – der eigentlich intern zuständige Bundesaußenminister, aber doch die Bundesregierung erteilt. Die jetzt geplante Streichung von § 103 StGB kann Anlass zu einer Neuregelung der Gerichtszuständigkeit geben. Derzeit ist nur im Falle einer Verletzung von § 102 StGB der Weg zum Oberlandesgericht nach § 120 Nr. 4 GVG eröffnet. Die Amtsgerichte sind vielleicht nicht die richtige Adresse für derartige Verfahren, deshalb dürfte der Fall angesichts seiner außenpolitischen politischen Implikationen und durchaus auch unklaren Rechtslage  und damit "besonderen Bedeutung" nach § 24 Abs. 1 Nr. 3 GVG  vor dem Landgericht verhandelt werden.                                                                                                              

                                                                                                                                                                                           jf 18.04.2016