Rhetorische Rechtstheorie

Eine der ältesten und zugleich aktuellen Formen, über Recht nachzudenken, ist die Rhetorik. Wie die Sophisten, die Rede- und Rechtskundigen im antiken Griechenland (Buchheim 1995, 1075; Rapp 2008), einst über die Wirkung des Worts auf das Gericht und den Gegner reflektierten und als Lehrer den prozess-führenden Parteien zur Seite standen (Tordesillas /Winter-Froemel 2007, 992, 1005, 1007), so beobachten die heutigen Rhetoriker das Recht als eine sprachkonstruierte Praxis und erklären den Gebrauch der rhetorischen Wirkungsmittel. Damit verfolgt die Rechtsrhetorik sowohl philosophische als auch wissenschaftliche und didaktische Interessen. Sie beobachtet und forscht, aber sie widmet sich auch der Aufklärung und dem Unterricht.

 

Gemeinsam ist diesen Bestrebungen die offene und handlungsbezogene Frage nach dem „Wie“: nach der Art und Weise, in der Akteure Recht durch Sprache herstellen (statt vieler: Schlieffen 2013, 1, 3). Theodor Viehweg formulierte programmatisch, es gehe darum, den intellektuellen Herstellungsprozess abzuklären (Viehweg 1975, 115). So leiten Rechtsrhetoriker dazu an, die Rechtsgewinnung zu beobachten; ihre Intention ist nicht normativ (Gast 1980, 147). Typische Fragen lauten: Was macht einen Rechtstext überzeugend? Welche Argumente sind stark und welche, unter welchen Umständen, sind schwach? Welche Wirkmittel (Logos, Ethos, Pathos) und welche Präsentationsformen (Medien) bestimmen die Rechtsrhetorik – wann und wo? Was sind die Ingredienzien einer „herrschenden Meinung“ (Endoxa)? Als was präsentieren sich juristische Texte (Dimension der Darstellung) und wie würde man sie (im Gegensatz dazu) aus der Perspektive anderer Disziplinen sehen? Welches Gewicht hat der rational-begründende Stil und welche Zukunft ist ihm beschieden? Setzt rechtliche Argumentation nicht stets einen außerrechtlichen Werte-hintergrund, eine Metaphysik voraus? Helfen rhetorische Untersuchungen der Rechtspraxis bei der Suche nach argumentativen Standards? Und, bezogen auf das Studium: Nach welchen verdeckten Maßgaben erfolgt die rhetorische Juristenausbildung?

 

Die skizzierte operativ-dekonstruktive Sichtweise („Wie wird Recht gemacht?“) unterscheidet die Rechtsrhetorik von anderen Ansätzen, die selber etwas zur Herstellung von Recht und Gerechtigkeit beisteuern möchten, etwa indem sie Konzepte der Gerechtigkeit, des Begründens oder der gesetzmäßigen Anwendung des Rechts entwerfen. Diese substanziellen oder prozeduralen Beiträge bereichern Themen des traditionellen rechtsphilosophischen Kanons oder auch der juristischen Dogmatik bzw. einer Supra-Dogmatik. Die Rechtsrhetorik vernachlässigt sie nicht, sondern bemüht sich, sie – wie auch die anderen Rechtsinhalte – als Aspekt des Gegenstandsbereichs teilnehmend wahrzunehmen und als rhetorisch beachtliche Phänomene zu behandeln. mehr

ks